Augsburg (pba). Menschen mit Behinderungen sollten selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sein. "Integration" hieß es früher, "Inklusion" lautet das Stichwort heute. Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger, Mitglied des Deutschen Ethikrats, setzt sich stark für eine inklusive Gesellschaft ein. Warum, verrät er in folgendem Interview.
Herr Weihbischof, was genau bedeutet eigentlich der Begriff "Inklusion"?
Der Begriff, der inzwischen schon fast zu einem Schlagwort geworden ist, sollte ganz bewusst aus seinen unterschiedlichen Hintergründen her beleuchtet werden. Aus soziologisch-gesellschaftspolitischer Sicht meint Inklusion die Umgestaltung der Gesellschaft hin zu einer voller Teilhabe aller Menschen an allen gesellschaftlichen Bereichen und Belangen. Mit allen Menschen sind daher ganz bewusst auch Menschen mit Beeinträchtigungen gemeint. Im pädagogischen Sinn meint Inklusion die Wertschätzung von Diversität, d.h. Vielfalt innerhalb einer Lerngruppe, z. B. einer Schulklasse und die bewusste Berücksichtigung von Heterogenität, also Unterschiedlichkeit. Inklusive Pädagogik sieht Verschiedenheit als normal an und verbindet damit die Chance, dass die Vielfalt zur Bereicherung wird.
Warum ist das Thema "Inklusion" so wichtig?
Für uns als Christen spiegelt sich in der Diskussion wie in einem Brennglas die Grundbotschaft Jesu wider, der allen Menschen, ohne Ausnahme und ohne Beschränkung, Gottes Liebe verkündet hat. Den benachteiligten Menschen galt ja seine besondere Zuwendung. Gerade deshalb beteiligen sich die christlichen Kirchen engagiert an den Diskussionen um Inklusion.
"Inklusion" wird derzeit stark gefördert: Warum gerade jetzt, warum nicht schon früher?
Auf den ersten Blick erscheint es richtig, dass Inklusion aktuell von großer Bedeutung ist. Wesentlich dazu beigetragen hat sicherlich die Veröffentlichung der UN-Behindertenrechtskonvention, die – 2006 verabschiedet und 2008 in Kraft getreten - einen Meilenstein für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gesetzt hat. Warum Inklusion nicht schon früher ein Thema war, möchte ich mit den Worten meines Freundes und Kollegen im Deutschen Ethikrat, Dr. Peter Radtke, beantworten, der sagt: "Bei der Integration ist der Ausgangspunkt immer das "Ich", entweder ich der integriert werden soll, oder ich, der Teil der Mehrheit ist und erwartet, dass sich der andere meinen Werten anpasst." Hier gibt es einen signifikanten Unterschied in der Bedeutung der Worte Integration und Inklusion: Bisher wurde bei uns immer von Integration von Menschen mit Behinderung gesprochen und die Anpassungsleistung lag vor allem auf der Seite der Betroffenen.
Inklusion stellt demgegenüber einen Perspektivenwechsel dar, denn zunächst geht es um die innere Haltung jedes Einzelnen und der gesamten Gesellschaft gegenüber Behinderung. Aus dieser neuen Haltung heraus erwächst eine Offenheit und ein Engagement dafür, sich so zu verändern, dass alle einen Platz in der Gemeinschaft finden und dort so sein dürfen, wie sie eben sind.
Was wurde in Bezug auf das Thema "Inklusion" schon erreicht?
Angeregt durch die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006 hat das Thema "Inklusion" in den vergangenen Jahren Fahrt aufgenommen, was ich absolut begrüße. Auf allen Ebenen, im Rahmen von Erziehung und Bildung, in der Arbeitswelt, im Bereich der Kultur, im Städtebau, in rechtlichen Fragen und auch innerhalb der Kirche ist es ein Thema geworden, das immer mehr, ich möchte sagen "selbstverständlich mitgedacht wird". Andererseits kann ich nicht verhehlen, dass die parallel dazu stattfindende Diskussion um pränatale Diagnostik, sprich um vorgeburtliche Gentest, wie wir sie aktuell im Deutschen Ethikrat führen, zeigt, dass gerade in diesem Bereich der medizinische Fortschritt in eine Gegenrichtung führt. Gleichsam einer Rasterfandung, die genetische Anomalie aufspürt, ist damit in den meisten Fällen auch ein Nein zu einem solchen Kind verbunden und damit das Infragestellen seiner Würde. Somit wird auf der einen Seite aller Orten Inklusion gefordert, auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die einer klaren vorgeburtlichen Auslese das Wort reden. Dies steht in einem eindeutigen Widerspruch zum Inklusionsgedanken.
Gibt es besondere Erfolgsmodelle oder außergewöhnliche Projekte bei uns in der Diözese?
Historisch betrachtet möchte ich mit einem gewissen Stolz sagen, dass in unserer Diözese der Einsatz und das Engagement für Menschen mit Behinderung mehr als hundertjährige Tradition hat. Der Mut des Priesters Dominikus Ringeisen und des Dillinger Regens Johann Evangelist Wagners beispielsweise, die zusammen mit zahlreichen engagierten Ordensfrauen Menschen mit Behinderung Bildung und Arbeit, Betreuung und Förderung gegeben haben, in einer Zeit, als dies gesellschaftlich als überflüssig, ja sogar sinnlos angesehen wurde – dieser Mut hat letztlich erst den Weg bereitet zur Integration und damit zur heutigen Diskussion um Inklusion. Heute sind es diese Einrichtungen in unserer Diözese, aber natürlich auch der Caritasverband oder die Katholische Jugendfürsorge, die durch Realisierung alternativer Wohn-, Beschäftigungs-, Assistenz- und Förderformen und durch Vernetzung, Beratungsarbeit und Weiterentwicklung bestehender Angebote Menschen mit Behinderung unterstützen.
Mit Blick auf unsere Diözese einzelne Inklusions-Projekte zu nennen wäre unfair gegenüber all denen, die seit Jahren daran arbeiten, dass Menschen mit Behinderung in den Pfarrgemeinden, in kirchlichen Kindertagesstätten oder in katholischen Schulen selbstverständlich beteiligt sind und mit ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Als Leiter der Hauptabteilung Schule möchte ich jedoch unterstreichen, dass wir mit der Einrichtung einer zehntägigen Weiterbildung, die bereits zum dritten Mal durchgeführt wird, gerade die Religionslehrkräfte, aber auch andere interessierte Lehrer und Lehrerinnen verschiedener Schularten für die Thematik der Inklusion sensibilisieren wollen. Auf diese Weise erhalten sie Unterstützung und fachliches Know-how, damit sie vorbereitet sind für die Veränderungen im schulischen Kontext. Auch für unsere katholischen Schulen – die Diözese Augsburg ist aktuell Trägerin von 40 kirchlichen Schulen – gewinnt das Thema Inklusion an Bedeutung und die Umgestaltung hin zur inklusiven Schule steht ganz oben auf der Agenda vieler Schulen.
Wo liegen Hindernisse und Stolpersteine, die die Umsetzung erschweren?
Ohne der Frage ausweichen zu wollen, möchte ich zunächst die einfachen, kleinen Schritte benennen, die Inklusion erleichtern und scheinbaren Stolpersteinen überwinden helfen. Das sind kleine bauliche Veränderungen, die den barrierefreien Zugang zu Kirchen, Pfarrheimen oder anderen kirchlichen Einrichtungen ermöglichen. Das ist die bewusste Gestaltung von Informationen auf kirchlichen Informationsseiten in der sogenannten "leichten Sprache" oder die gezielte Einladung von Mitgliedern einer Wohngruppe für psychisch kranke Menschen z. B. zum Pfarrfest.
Es ist die gelebte und gestaltete Offenheit im Rahmen der Gemeindekatechese für ein Kind mit autistischen Zügen oder die Bereitschaft, Angebote in der Pfarrei auf deren inklusiven Charakter hin zu überprüfen. Bei der Fachstelle der Pfarreiorientierten Behindertenseelsorge unserer Diözese kann hier kompetente Beratung und Unterstützung in Anspruch genommen werden. Der erste Schritt zur Inklusion ist also gelebte Offenheit.
Trotzdem möchte ich die Hindernisse und Stolpersteine nicht verschweigen. Gerade mit Blick auf die schulische Inklusion sind sicherlich noch viele offene Baustellen zu benennen. Das Schlagwort "Eine Schule für alle" geht leicht über die Lippen, kann jedoch zu einer scheinbar unüberwindbaren Hürde werden, solange notwendige Mittel für Baumaßnahmen, zusätzliches Personal und auch die Zeit für umfassende und qualifizierte Aus- und Fortbildung des pädagogischen Personals zu gering sind. Inklusion, und das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden, kostet uns etwas. Sie kostet Zeit, selbstverständlich Geld und vor allem Mut. Den Mut, eingetretene Pfade zu verlassen, im Kontext der Schule z.B. scheinbar bewährte Formen der Beschulung kritisch zu hinterfragen und den Mut, Neues auszuprobieren.
Was macht für Sie also den Wert einer inklusiven Gesellschaft aus?
Dies möchte ich mit nur einem einzigen Satz beantworten: Eine inklusive Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit einem humanen Antlitz und gleicher Würde aller Menschen. Dies anzustreben kann nur zum Vorteil für uns alle werden.
Das Interview führte Maria Steber.