Seit vielen Jahren habe ich mir angewöhnt, mit meinen Neuntklässlern vor Weihnachten das Weihnachtsevangelium zu lesen. Im Anschluss daran erhalten alle den Arbeitsauftrag einen Satz hervorzuheben, der ihnen, besonders wichtig ist.
Jedes Mal bin ich aufs Neue überrascht, dass am häufigsten der Satz gewählt wird: Fürchtet euch nicht!
Für mich wird an dieser Tatsache sehr deutlich, welche Sehnsucht meine Schülerinnen und Schüler gerade auch mit dem Weihnachtsfest verbinden. Es ist der Wunsch, dass alles gut wird, der Wunsch danach, sich sicher zu fühlen, der Wunsch nach einem gelingenden Leben.
Für mich ist dieser Satz des Engels an die Hirten in Betlehem die Grundbotschaft des Weihnachtsevangeliums: Fürchtet euch nicht!
Der Engel richtete diese Worte an die Hirten. Sie, die zur damaligen Zeit gesellschaftlich wenig akzeptiert waren, durch ihre dreckige Arbeit als Außenseiter galten, und im im sozialen Gefüge ganz unten standen. Nicht einmal die Tiere die sie hüteten gehörten ihnen selbst.
Aber genau ihnen, den Außenseitern, den Unbeachteten wendet sich der Engel als Erster zu, bringt ihnen die frohe Nachricht, dass Gottes Sohn geboren wurde. Er bringt Ihnen eine Botschaft voller Freude und Hoffnung, voller Zuversicht und Zukunft.
Angst hat keinen Platz mehr, wenn Gott Mensch wird und mitten unter uns Wohnung gefunden hat. Angst hat keinen Platz mehr, weil Gott deutlich macht, dass er uns ganz nahe kommen will, mitten in unser Leben, in unseren Alltag. Er zeigt uns, dass wir Menschen ihm wichtig sind. So wichtig, dass er sich ganz klein macht um seinen Platz bei uns zu finden. Er bringt in unsere brüchige, zerrissene Welt seine Botschaft des Friedens, der Liebe und die Botschaft, die sich durch das ganze Leben Jesu zieht: Du Mensch bist wertvoll und wichtig!
Jeder Mensch, eben auch die Hirten. Und gerade bei Ihnen begann diese Verheißungsgeschichte Gottes mit uns Menschen an Weihnachten.
Immer wieder aufs Neue stellt sich für mich beim Hören des Weihnachtsevangeliums daher die Frage, wem der Engel heute als Erster die Frohe Botschaft verkünden würde. Wer sind die Hirten unserer Tage?
Wäre es vielleicht der arbeitslose Mitarbeiter in der Gastronomie, der durch Corona seit Monaten auf Kurzarbeit ist und Sorge um seine Zukunft hat und dem der Engel zusagt: Fürchte dich nicht.
Wäre es die junge Mutter dreier Kinder, die in den Favelas von Rio de Janeiro nicht weiß, wovon sie ihre Kinder satt bekommen soll und der der Engel zusagt: Fürchte dich nicht!
Wäre es das kleine Mädchen, das immer wieder erlebt, dass seine Eltern sich streiten und den der Engel zusagt: Fürchte dich nicht!
Wäre es der alte Mann im Pflegeheim, der spürt das seine Kräfte schwinden. Der nach und nach seine Lebensgeschichte vergisst und seine Familie nicht mehr erkennt und dem der Engel zusagt: Fürchte dich nicht!
Oder wären wir es selbst, mit unseren persönlichen Sorgen und Zweifeln, Ängsten und Nöten. Wir, die wir uns vielleicht wünschen dass ein Engel käme, um uns zuzusagen: Fürchte dich nicht!
Im Weihnachtsevangelium wird berichtet, dass nach der Botschaft des einen Engels auf einmal eine große himmlische Schar von Engeln am Himmel erschien. Sie alle stimmten mit ein den Hirten die frohe Nachricht zu verkünden und den Lobgesang Gottes anstimmten. Vielleicht war angesichts der Größe der Botschaft von Gottes Menschwerdung ein Engel alleine nicht genug? Oder braucht es viele Engel, die den Menschen zusagen: Fürchte dich nicht?
Ich glaube, es braucht viele Engel, die uns immer wieder die Frohe Botschaft verkünden, dass Gott mitten unter uns Mensch wird.
Gerade in diesem Jahr wünschen wir uns – vielleicht sogar mehr als sonst - an diesem Weihnachtsfest Nähe und Beistand, den Kontakt mit Menschen, die uns zeigen, dass wir Ihnen wichtig sind und die uns zeigen, dass sie uns mögen, die uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben.
Damit es jedoch für all die Vielen, die einen Engel brauchen, möglich wird die Frohe Botschaft und die Zusage „Fürchte dich nicht!“ zu hören, braucht es viele Engel. Wir selbst können diese Engel sein. Ganz ohne Flügel. Engel, die einander zusagen „Fürchte dich nicht!“ oder „Ich denke an dich!“
Engel, die ein freundliches Wort haben oder ein Lächeln. Engel, die bei einem Telefonanruf zuhören oder durch eine Karte zeigen, dass sie uns nahe sind. Engel, die eine Kleinigkeit vor die Türe stellen oder uns einladen zu einer Tasse Kaffee. Engel, die im Gebet mit uns verbunden sind. Engel, die …
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die Weihnachtsbotschaft jetzt und heute lebendig zu machen, um so die Sehnsucht, wie ich sie aus den Aussagen meiner Schülerinnen und Schüler heraus ausgehört habe, Wirklichkeit werden zu lassen. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Anerkennung und Liebe. Genau wie damals bei den Hirten in Bethlehem.
Wir wünsche Ihnen in diesen Tagen angesichts der hoffnungsfrohen Botschaft des Weihnachtsfestes die Erfahrung, sich nicht fürchten zu müssen, und wünsche Ihnen die Begegnung mit vielen Engeln (auch ohne Flügel).
Dr. Kristina Roth und Markus Moder