Sigmarszell/Wangen (KNA) Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem man den Jahreswechsel weniger gern verbrächte: im Krankenhaus. Doch Fanny Miller hat keine Wahl. Die 67-Jährige muss wegen einer Autoimmunerkrankung im Fachklinikzentrum Wangen bleiben. "Aber ich finde es nicht schlimm", sagt sie. "Ich sehe das Positive: Endlich lerne ich, geduldig zu sein." Etwa beim Lesen. Miller kann Seiten nur mühsam umblättern, die Krankheit hat ihre Finger schwer beweglich gemacht. Doch Millers aktuelle Lektüre ist mehr als eine Übung in Feinmotorik. Ihr "Trost- und Powerbuch" soll vor allem eines bieten: Aufmunterung
Dieses "Trost- und Powerbuch" ist ein so ernstes wie erfolgreiches Projekt. Erfolgreich, weil es seit nun zehn Jahren existiert. 11.000 Exemplare wurden bisher an Krankenhäuser und Geschäfte im bayerischen und württembergischen Allgäu verteilt, gerade ist dank der Aktion "Lindau fördert" eine neue Auflage von 5.000 erschienen. Patienten und Interessierte dürfen sich die Hefte ausleihen oder gegen eine Spende behalten, genauso wie die mit Engeln verzierten Karten und Lesezeichen, die es dazu gibt.
Und ernst ist das Projekt, weil eine Notsituation die Initiatorin dazu bewogen hat. Monika Eisele heißt sie und lebt in Sigmarszell im Landkreis Lindau. An der Grundschule im benachbarten Weißensberg arbeitet die 54-Jährige als katholische Religionslehrerin. Dort unterrichtete sie schon, als bei ihr 2005 eine lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung diagnostiziert wurde, eine andere allerdings als bei Fanny Miller.
Eisele durchlitt "grausame Schmerzen", wie sie sagt, doch überlebte. "So habe ich die Erfahrung gemacht, dass für den Körper optimal gesorgt wurde. Aber für meine Seele hat mir etwas gefehlt - Zuspruch geht im hektischen Krankenhausalltag leider etwas unter." Die Pädagogin beschloss zu handeln.
Als sie wieder einsatzfähig war, machte sie sich mit mit ihren Viertklässlern ans Werk. Die Kinder schrieben ihre Lieblingsgebete auf und gute Wünsche und malten dazu Bilder. Immer wieder zeichneten sie ihre Vorstellungen eines helfenden Gottes: mal als wärmende Lichtstrahlen, mal als bunt-fröhliches Wirrwarr und immer wieder als Wolke, aus der sich einem eine Hand entgegenstreckt.
Eisele selbst textete ein Lied an Gott. "Dieser mächtige Gott verspricht einem ja, immer da zu sein", erklärt sie. "Mit diesem Versprechen habe ich jedoch gehadert, als ich die Schmerzen und harte Chemo- und Kortisontherapien über mich ergehen lassen musste."
"Mein Gott, ich schrei zu dir", heißt es in ihrem Lied zunächst. "Ich tobe, die Wut ist groß. Kein Weg, der sich jetzt lohnt, ich hab das schlechte Los." Und später: "Mein Gott, ich danke dir, denn du bist immer bei mir. Auch in dem finst'ren Loch, da findest du mich doch." Sie habe irgendwann wieder Kraft gespürt, berichtet Eisele. "Es hat wohl was gebracht, dass ich Gott ständig gesagt habe, dass ich nicht verstehe, warum ich so leiden muss."
Sigrid Thal muss nicht leiden. Die 47-Jährige ist wie Fanny Miller Patientin im Fachklinikzentrum, zur Reha nach einem Schlaganfall. "Ich sehe gerade zwar alles doppelt, aber Schmerzen habe ich keine." An dem "Powerbuch" finde sie vor allem eines toll: "Dass es Kindern vermittelt, dass es Schicksale gibt, die außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegen - sowohl denen, die daran mitgewirkt haben, als auch denen, die es lesen."
Die kindliche Anmutung des Buchs spreche indes besonders alte Menschen an, fügt Schwester Mirja Rilling hinzu. Die 68-jährige Franziskanerin arbeitet in der Krankenhausseelsorge und verteilt die "Powerbücher". "Die betagteren Patienten sehen in den Kindern, die das erarbeitet haben, ihre Enkel. Das erfreut sie, das gibt ihnen Zuversicht."
Fanny Miller sieht gleichfalls hoffnungsfroh voraus. Nicht, dass sie wüsste, wann sie entlassen wird. "Aber Gott wird's mir schon sagen, ihm vertraue ich." Trost braucht sie also gar nicht. Trotzdem schätzt sie das "Powerbuch" - für ihr Fingertraining. "Und, weil ich bewundere, welch schöne Sachen Schmerz und Schwäche hervorbringen können."
Text: Christopher Beschnitt (KNA)